20. Mai 2021
Tabu Stuhlinkontinenz
Sport, Ausflüge oder gar Reisen – schwierig bis unmöglich für Menschen mit Stuhlinkontinenz. Viel zu oft leiden sie jahrelang still, denn ihre Krankheit ist ein Tabu. Nicht jedoch für die Fachkräfte der Beckenbodensprechstunde am Kantonsspital Baselland (KSBL), die sich damit auskennen und helfen können.
Endlich wieder Joggen!
Wieder am Basler Frauenlauf teilnehmen – vor einem Jahr hätte Marianne L. dies nicht für möglich gehalten. Der Bewegungsradius der sportlichen 58-Jährigen beschränkte sich damals auf ihr Zuhause und kurze Gänge durchs Quartier. «Mehr lag bei einer Vorwarnzeit von einer Minute und bis zu zehn Durchfällen täglich nicht drin», erzählt sie. Was Mitte 50 mit leichtem Stuhlschmieren begonnen hatte, wurde innert weniger Wochen zu einer starken Beeinträchtigung. Ins Büro ging sie erst mit Inkontinenzwäsche und dann nur noch nüchtern, damit ja nichts passieren konnte. Da sie ihr Arbeitspensum nicht reduzieren und nur morgens arbeiten konnte, musste Marianne L. ihre Stelle aufgeben. «Mit der Zeit getraute ich mich kaum mehr aus dem Haus», erzählt sie. «Zwar machten mir der Bewegungsmangel und die immer mehr abnehmenden sozialen Kontakte zu schaffen, aber die Angst überwog. Ich wollte mir keinesfalls in der Öffentlichkeit in die Hose machen!» Nur ihre Familie und zwei Freunde wussten von ihrer Krankheit. Spazieren oder auswärts essen war nur noch mit minutiöser Planung möglich. «Ich kenne dank WCApps wie <Toilet-Finder> oder <WCi> jede öffentliche Toilette in der Nähe.»
Hohe Dunkelziffer
Geschichten wie die von Marianne L. hört Dr. med. Sebastian Lamm häufig. «Ich bin froh um alle, die sich an uns wenden. Denn zu viele Menschen mit Stuhlinkontinenz bleiben mit ihrem Leiden allein – die Dunkelziffer ist hoch. Dabei gibt es heute sehr viel, was man dagegen tun kann.» Ältere Frauen seien überdurchschnittlich stark von Stuhlinkontinenz betroffen, hält der Darmspezialist fest, der 2017 die Beckenbodensprechstunde am KSBL mitgegründet hat. Dies habe oft mit Geburtsverletzungen des Schliessmuskels zu tun. «Jüngere Frauen können Beckenbodenschwächen meistens noch kompensieren. Mit zunehmendem Alter gelingt dies manchmal nicht mehr.» Stuhlinkontinenz kann aber auch durch Darmkrebs, Demenz oder Nervenleiden wie Parkinson oder MS verursacht werden (s. Textkasten). Bei Marianne L. hatte ein schwerer Dammriss bei der ersten Geburt den Schliessmuskel geschädigt, was in der Menopause zur Stuhlinkontinenz führte. Nach eineinhalb Jahren Scham und Einsamkeit fasste sie sich schliesslich ein Herz und sprach ihre Hausärztin auf ihr Leiden an. «Sie überwies mich sofort in die Beckenbodensprechstunde am KSBL – von da an ging es aufwärts.»
Rasche Behandlung
In der Beckenbodensprechstunde wurde Marianne L. von einer Magen-Darm-Fachärztin und einem Chirurgen gemeinsam empfangen. «Diese Spezialisten kannten und verstanden meine Probleme. Ich fühlte mich sofort in guten Händen», sagt Marianne L. rückblickend. Das ärztliche Team besprach alle Beschwerden mit ihr, auch anhand ihres Ernährungs- und Stuhltagebuches, und führte sämtliche nötigen Erstuntersuchungen durch. «Innerhalb von nur einer Stunde zeichnete sich ab, was das beste Vorgehen wäre. Dies war eine grosse Erleichterung für mich.» Aufgrund der Folgen ihres schweren Dammrisses empfahl das Beckenboden- Team neben stuhleindickenden Nahrungsmitteln und Beckenbodentraining die Elektro- Das Team der Beckenbodensprechstunde bespricht einen aktuellen Fall und legt gemeinsam die individuelle Therapie fest. v.l.n.r. Eva Hanafi, Physiotherapeutin, Dr. med. Elisabeth Pexa-Titti, Leitende Ärztin Gastroenterologie, Dr. med. Sebastian Lamm, Leitender Arzt Chirurgie, Dr. med. Pascale Meschberger, Oberärztin Chirurgie, Dr. med. Yves van Roon, Leitender Arzt Frauenklinik. stimulation der Enddarm-Nerven: Testweise wurde die Stimulation zuerst einige Wochen lang äusserlich am Fussknöchel angewendet, worauf Marianne L. gut ansprach. Anschliessend wurde ihr ein diskreter Schrittmacher eingesetzt. «Innert weniger Tage konnte ich meinen Stuhl wieder so weit kontrollieren, dass Joggen wieder möglich war, und bald darauf konnte ich sogar wieder schwimmen», strahlt sie.
«In der Beckenbodensprechstunde steht uns eine moderne Infrastruktur zur Verfügung. Deshalb können wir meist bereits innert einer Sitzung gemeinsam mit den Betroffenen herausfinden, welche Behandlung die richtige für sie ist.»
Dr. med. univ. (AT) Elisabeth Pexa-Titti
Fachärztin für Gastroenterologie
Leitende Ärztin / Assoz. Universitäres Zentrum Innere Medizin
Tel. +41 61 925 23 58
Mail
Was ist Stuhlinkontinenz?
Wer unter Stuhlinkontinenz leidet, kann die Entleerung seines Darmes nicht kontrollieren. Gründe dafür sind Störungen von Anatomie, Motorik und Reizverarbeitung. Stuhlinkontinenz schränkt die Lebensqualität stark ein und führt in schweren Fällen dazu, dass sich Betroffene sozial isolieren. Man unterscheidet passive- und Dranginkontinenz. Passiv heisst, dass jemand an Stuhlschmieren leidet oder unkontrolliert grössere Mengen an Stuhl verliert, ohne vorher einen Drang wahrzunehmen. Bei der Dranginkontinenz bemerken die Betroffenen wohl einen Stuhldrang, aber ihre Vorwarnzeit kann äusserst kurz sein: Sie können trotz aktiven Zusammenziehens des Schliessmuskels nicht verhindern, den Stuhl zu verlieren, sollten sie nicht sehr rasch eine Toilette auffinden. Verursacht wird die Dranginkontinenz häufig durch Beckenbodenund Schliessmuskel-Verletzungen, die bei Frauen oft auf Geburtsverletzungen zurückzuführen sind. Auch Spätfolgen von Operationen am Darm können Inkontinenz verursachen.
Erfolg mit einfachen Mitteln
Nicht immer sei eine Operation nötig, um eine Stuhlinkontinenz in den Griff zu bekommen, betont Sebastian Lamm. In vielen Fällen lernen Patientinnen und Patienten, den Stuhl beispielsweise über eine Diät, mit stopfenden Nahrungsmitteln, Verhaltenstraining oder durch Beckenbodentraining in der Physiotherapie zu steuern. «Damit können sie in kurzer Zeit ihre Lebensqualität enorm steigern.» Doch auch ein Eingriff sei heute im Allgemeinen schonend, sagt Sebastian Lamm. Mit Sicherheit lässt sich dies vom bewährten Schrittmacher für die Nervenstimulation sagen, der bei Marianne L. zum Erfolg führte: Das Gerät von der Grösse eines Fünflibers wird ambulant dicht unter der Haut platziert und ist von aussen unsichtbar. «Die jährliche Batteriekontrolle ist ein geringer Preis für die wiedergewonnene Freiheit», sagt Marianne L. Doch wenn Corona ihr keinen Strich durch die Rechnung macht, wird das Beckenboden- Team schon lange vorher von ihr hören: mittels Postkarte aus Basel, nach vollbrachtem Frauenlauf.
«Das Tolle an der nicht-operativen Therapie ist, dass man bei vielen Formen der Inkontinenz bereits mit einfachen Mitteln sehr viel erreichen und Lebensqualität zurückgewinnen kann. So können bereits stopfende Flohsamen für eine zufriedenstellende Stuhlregulation sorgen.»
Dr. med. Sebastian Lamm
Facharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie
Leitender Arzt
Koordinator Darmkrebszentrum
Tel. +41 61 925 27 20
Mail
«Gezieltes Training stärkt den Beckenboden sehr effektiv. Eine grosse Unterstützung ist dabei das Biofeedback, das die Bewegungen des Beckenbodens direkt sichtbar macht: Die eigenen Fortschritte live am Bildschirm zu erleben, motiviert enorm – und zahlt sich aus!»
Interdisziplinäre Beckenbodensprechstunde
In den verschiedenen Sprechstunden betreut je nach Erkrankung ein ärztliches Team von mindestens zwei Spezialistinnen und Spezialisten aus den Fachgebieten Chirurgie, Gastroenterologie, Urologie oder Gynäkologie die Patientinnen und Patienten. Am Anfang des ca. einstündigen Termins steht ein Gespräch, während dem Beschwerden und Vorgeschichte sorgfältig erhoben und diskret die nötigen Untersuchungen durchgeführt werden. Auf Wunsch stehen dafür Fachärztinnen oder -ärzte zur Verfügung. Im Anschluss wird gemeinsam die individuelle Therapie geplant. Sehr oft sind nicht-operative Behandlungen wie Ernährungsanpassungen, Medikamente und Physiotherapie bereits erfolgreich. Manchmal können auch schonende Operationen helfen. Die folgenden Erkrankungen werden am häufigsten behandelt:
- Stuhl- und Urininkontinenz
- Verstopfung
- Hämorrhoiden
- Perianal-Venenthrombose
- Mastdarmvorfall
- Fisteln
- Feigwarzen
- Erkrankungen des Analkanals
v.l.n.r. Eva Hanafi, Physiotherapeutin, Dr. med. Elisabeth Pexa-Titti, Leitende Ärztin Gastroenterologie, Dr. med. Sebastian Lamm, Leitender Arzt Chirurgie, Dr. med. Pascale Meschberger, Oberärztin Chirurgie, Dr. med. Yves van Roon, Leitender Arzt Frauenklinik.
Haben Sie Beschwerden?
Das Team der Beckenbodensprechstunde hilft Ihnen vertrauensvoll und kompetent weiter.
Kantonsspital Baselland
Chefarztsekretariat Chirurgie
T +41 (0)61 925 21 50
beckenbodenzentrum@ksbl.ch
www.ksbl.ch/proktologie
Der Beitrag ist im Magazin «medizin aktuell», Ausgabe Nr. 7, Mai 2021, erschienen.
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